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Fallbeschreibung „Michael – inkompletter Querschnitt nach Motorradunfall – Lernprozess über 5 1/2 Jahre”

Fallbeschreibung „Michael – inkompletter Querschnitt nach Motorradunfall – Lernprozess über 5 1/2 Jahre”

 

Helga Bost, Feldenkrais –Pädagogin, St.Wendel/ BRD

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Michael hatte 26-jährig am 26. März 1989, einem Sonntag, einen Motorradunfall, dabei wurde der 1. Lendenwirbel zum 12. Brustwirbel schräg zertrümmert. Am Unfallort konnte er noch kurzfristig stehen, in beiden Füßen hatte er noch Sensibilität. Blasen- und Darmfunktion waren nicht mehr kontrollierbar.

Dienstags wurde in einer Operation die Wirbelsäule stabilisiert durch das Einsetzen von 2 Metallstäben und durch aus dem Beckenrand entnommene Späne. Nach dieser Operation konnte er seine Beine nicht mehr bewegen und auch nicht mehr spüren. 6 Stunden später entfernte man in einer 2. Operation Knochensplitter und einen Bluterguss aus dem Wirbelkanal.

6 Monate verbrachte Michael in Rehabilitation in Langensteinbach. Er wurde mobilisiert durch Krankengymnastik und Vojta. Schon bald fing er damit an, sich vorzustellen, sein großer Zeh bewege sich, und tatsächlich bewegte er sich nach einiger Zeit. So stellte er sich immer komplexere Bewegungen vor. Die jeweilige Vojta-Behandlung ermöglichte selbständig auszuführende Bewegungen.

Zunächst saß Michael fest im Rollstuhl. Mit Hilfe von Beinschienen und Krücken lernte er sogar kurze Strecken zurückzulegen.

Nach 6 Monaten wurde er nach Hause entlassen. Er nahm weiter Krankengymnastik und Vojta. Außerdem trainierte er in einem krankengymnastisch begleiteten Fitness-Studio und spielte Basketball im Rollstuhl.

Die Metallstäbe brachen und wurden operativ entfernt. Zu diesem Zeitpunkt war die Wirbelsäule auch ohne zusätzliche Versteifung stabil genug für alle möglichen Belastungen.

Als ehemaliger Forstwirt richtete Michael sich in einer Lehrwerkstatt eine Halbtagsstelle zum Reparieren der Sägen ein. Der Nachmittag blieb den Reha – Maßnahmen vorbehalten.

Im August 1991 kam Michael zum erstenmal in meine Praxis: er ging an zwei Stöcken mit Gehschienen.

Ich gebe ihm wöchentlich eine FI-Lektion und außerdem besucht er wöchentlich die normale ATM-Klasse. Zu diesem Zeitpunkt ist er kaum in der Lage, aus der Rückenlage heraus seinen Kopf aufzuheben trotz seines stark durchtrainierten Oberkörpers. Er kann seine Beine aufstellen, muss aber noch mit den Händen oder Augen kontrollieren, „wo sie jetzt sind“.

Das Neigen der Beine nach rechts und nach links erscheint holprig, nicht gut angebunden an die Wirbelsäule. Bei Berührung nimmt er seine Beine an manchen Stellen pelzig wahr, dadurch kann er ungefähr spüren, wo ich ihn berühre.

In den nächsten Stunden arbeiten wir sowohl in FI als auch in ATM thematisch parallel, im wesentlichen von oben, also oberhalb des Querschnitts, mit Kopf, Schultern und Brustkorb. Schon nach der 2. Stunde wird Bewegung durchlässig bis zum Becken. Michael kann einfacher, mit weniger Anspannung sitzen und seinen Kopf müheloser aufheben, mehr angebunden an die Wirbelsäule und das Becken nach unten.

Am 25.10.91, in der 6. FI-Stunde, arbeite ich mit ihm in der Seitenlage links: Schulter und Becken vor und zurück. Danach erlebt er in Rückenlage das rechte Bein länger und dicker, er nimmt es spontan zum erstenmal wahr, traut sich aber nicht und legt zum Vergleich beide Beine aneinander und kontrolliert mit den Augen. Nach dieser Lektion mit sehr viel Bewegung in der Seitenlage, will ich ihm Stabilität fürs Stehen vermitteln. Da er sich zu diesem Zeitpunkt von den Füßen her nicht wahrnehmen kann, gebe ich ihm diese Information „Stehen“ vom 7. Halswirbel aus durch sanften Druck nach unten Richtung Becken mehrmals für einige Momente. Ich beobachte, wie Michaels Beine sich aus der Ruheposition mit nach außen geneigten Füßen drehen, bis die Zehen Richtung Zimmerdecke zeigen, die Füße beugen sich – die Beine organisieren sich sichtbar zum Stehen. Michael nimmt zunächst nicht die Bewegung wahr, sondern erlebt dieses Geschehen als „kaltes Kribbeln, als inneren Schauer“. Nach 3 weiteren Versuchen nimmt er wahr, wie sich seine linke Kniescheibe hochzieht und der Fuß sich beugt. In der gleichen Art gebe ich weiter mehrmals leichten Druck neben dem 7. Halswirbel und Michael spürt, wie das Becken angesprochen wird, „als wolle es stehen“. Er fühlt und ich sehe auch gut, wie die Pomuskulatur sich anspannt. Er spürt, wie sich eine Spannungsverbindung aufbaut zwischen dem linken Fuß – dem inneren Unterschenkel –am Knie vorbei – an die Aussenseite des linken Oberschenkels – bis zur Pomuskulatur.

Gebe ich den leichten Druck etwas mehr hinten am 7. Halswirbel, wird die Oberschenkelmuskulatur auf der Vorderseite sichtbar und für ihn fühlbar angesprochen.

Von nun an werden in allen FI-Lektionen Bewegungen autonom, sichtbar ausgeführt. Deshalb beschliesse ich, ab jetzt häufig die Videokamera zur Dokumentation aufzustellen, außerdem fasse ich jede Lektion in einem Beobachtungsbuch auch schriftlich kurz zusammen.

Am Ende einer weiteren FI-Lektion – Arbeit mit dem Atem –, gehe ich wieder zum 7. Halswirbel. Michaels Beine reagieren schneller, die ganze Organisation „Stehen“ entwickelt sich auch bis in den unteren Rücken. Gebe ich diesen Impuls nur rechts neben dem 7. Halswirbel, organisiert sich das rechte Bein zum Stehen und das linke beginnt sich zu beugen, ebenso auch gegengleich. So kann durch abwechselnden Druck rechts oder links neben dem 7. Halswirbel die Bewegung des „Gehens“ initiiert werden. Dieses Sichtbarwerden der Bewegung, also zu sehen und zu spüren, wie das Nervensystem sich organisiert, ist für uns beide sehr spannend und aufregend. Auch wenn ich mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht genau erklären kann, wie es zu diesen sichtbaren Reaktionen kommt, kann ich durchaus sehen, wie meine Absicht, Michael sicher zum Stehen zu bringen, ausgeführt wird – es passiert also nur das, was ich erwarte, mit dem großen Unterschied zu anderen Personen aber, wird der Impuls in sichtbare Bewegung umgesetzt. Michael kann sie durchaus wahrnehmen, aber nicht willentlich hemmen. Trotzdem kann er sie beim Stehen und Gehen benutzen: Seit diesem Tag kann Michael an zwei Stöcken, rechts mit geöffneter Beinschiene, Treppen gehen; 3 Monate zuvor hatte er es vergeblich versucht. Kurze Strecken kann er jetzt ohne Krücken mit rechts geöffneter Sperre, mit 2 Krücken bei beiderseits geöffneter Sperre 15 m gehen. Bis zu diesem Zeitpunkt fiel er nach kurzer Zeit hin, weil die Konzentration auf die Organisation beim Beugen beider Beine zu schwierig war.

Am Beispiel „Beine aufstellen in Rückenlage“ entdecken wir einen guten Weg, neue Bewegungen zu erlernen.

1. – Ich bewege Michael – er spürt und kontrolliert die Bewegung mit den Augen.

2. – Ich bewege ihn – er spürt die Bewegung, ohne hinzuschauen.

3. – Michael kann nun das rechte Bein mit Augenkontrolle aufstellen.

4. – Michael stellt das rechte Bein ohne Augenkontrolle auf und weiß, wo es ist.

5. – Er versucht das linke Bein ohne die Schritte 1, 2, 3 aufzustellen. Das gelingt ihm jedoch nicht: „ Es ( das Bein) weiß nicht, wie es das machen soll.“

6. – Michael stellt nun das linke Bein 3 Mal auf und schaut dabei zu. Dann kann er es auch ohne hinzuschauen.

Jede Lektion endet mit der Integration vom 7. Halswirbel aus, um die neuen Erfahrungen mit den alten zu verbinden. Es wird immer weniger Druck erforderlich, da der Reiz immer klarere, weit nach oben reichende Reaktionen bewirkt.

Trotz aller Fortschritte ist die Krankenkasse nicht bereit, auch nur anteilig Kosten zu übernehmen.

Schon zu dieser frühen Phase unserer Arbeit berichtet Michael immer wieder von „Koordinationssprüngen“ in vielen Bereichen: Er wird sicherer im Gehen, so dass er auch draußen auf relativ ebener Fläche kurzzeitig ohne Stöcke auskommt. In der Werkstatt kann er in beiden Händen Gegenstände tragen und schon vorausschauend auf die Werkbank seine Arbeit planen (Automatisierung von Bewegungsabläufen). An Fasching hat er viel Vergnügen beim Tanzen. Sein Masseur berichtet, dass Michaels Rückenmuskulatur überraschend stark geworden ist. Im Fitnesscenter kann er innerhalb von zwei Tagen (d.h.: was montags noch nicht möglich war, war mittwochs möglich) deutlich größere Gewichte mit der gleichen Leichtigkeit mit den Beinen aufheben.

Auch beim Gehen ohne Stöcke ist Michael Anfang 1992 in der Lage, Stolperschritte „irgendwie aufzufangen“ – es funktioniert von alleine. Als beim Basketballspiel sein Rollstuhl umzukippen droht, schnellt der rechte Fuß aus der Halteschlaufe des Rollstuhls nach vorne, so dass das rechte Bein einen Umsturz des Rollstuhls abfangen kann.

Inzwischen hat Michael mehrere Möglichkeiten, sich in der Ruheposition wahrzunehmen, denn bislang konnte er beim Durchkämmen des Körpers zu Anfang der Lektionen seinen Unterkörper nicht wahrnehmen.

1. Michael lernt sich wahrzunehmen durch Spannung und Entspannung.

2. Nach FI-Lektionen kann er Veränderungen auch im unteren Körper hinsichtlich von Länge und Schwere wahrnehmen.

3. Im Februar 1992 bemerkt er beim Nachspüren ein „Wärmebild“ des ganzen Körpers.

4. Nach FI-Lektionen erlebt Michael manchmal im Stehen den Druck der Füße am Boden als „Kribbeln“ und weiß dadurch, wo die Füße sind.

Im März und April 1992 arbeiten wir thematisch am Krabbeln und Kriechen, sowohl in ATM als auch in FI. Schon in der 2. FI-Lektion wird diese Bewegungsabfolge sehr schnell „verstanden“ und Michael bemerkt: „Wenn ich den Kopf drehe, weiß ich, dass das andere Bein lang wird und das gleichseitige sich beugt.“ Das komplexe Bewegungsmuster „Kriechen“ kann initiiert werden von jedem beliebigen Körperteil aus, das zuvor in der FI-Stunde geklärt wurde. Die Bewegungen werden als komplexe Muster sichtbar ausgeführt, jedoch ohne dass Michael die spontanen Bewegungen hemmen könnte. Das heißt also: Michael liegt z.B. auf dem Bauch. Ich hebe die rechte Schulter auf, streiche das Schulterblatt mehrmals mit kleinen Richtungsunterschieden gegen die Wirbelsäule,… beuge das rechte Bein, schiebe es mehrmals mit kleinen Unterschieden in der Richtung gegen das Becken und integriere auch diese Bewegung entlang der Wirbelsäule. Danach kann dann von jedem Wirbelkörper aus, von der Schulter oder vom Becken das komplexe, bis zu diesem Zeitpunkt erarbeitete Muster des „Kriechens“ abgerufen werden.

Im Herbst 1992 nimmt Michael an einer achttägigen Segeltour an der Côte d´ Azur teil. Seine Krücken und der Rollstuhl, sogar die Gehschienen benutzt er auf dem Schiff nicht. Er geht also ohne Gehhilfen und hält sich nur durch Halten am Schiff im Gleichgewicht. Zum erstenmal schwimmt er auch wieder.

Immer drängender wird für mich die Frage, was passiert im Nervensystem, dass auf leichte Berührung komplexe Bewegungen sichtbar ausgeführt werden.

Bei einem FK-Lehrertreffen in München stelle ich meine Arbeit, auch unterbaut mit Videoausschnitten, meinen Kollegen vor, komme aber mit meiner Frage nach den Hintergründen nicht wesentlich weiter.

Anlässlich der jährlich stattfindenden Advanced – Trainings in München erzähle ich auch Yochanan Rywerant von meiner Arbeit mit Michael. Er spricht von fehlender Hemmung, dass die neueren Schichten des Gehirns noch keine Kontrolle haben über die älteren. Im Unterricht lässt er mich die Bedeutung von Hemmung spüren. Durch diese Erfahrungen im Unterricht und unsere Gespräche finde ich beim Durchlesen der Feldenkrais-Schriften immer wieder Abhandlungen, die mir Antworten auf meine Fragen geben.

Moshé Feldenkrais: Die Entdeckung des Selbstverständlichen, Seite 114:

„Ihr Gehirn hat, wie meines, eine sehr lange Geschichte. Unsere Nervensysteme gehören zu den kompliziertesten Strukturen überhaupt. Sie haben sehr alte Schichten, die von weniger alten – und diese ihrerseits von noch jüngeren – überlagert sind. Jede neue Schicht ist eine Formation, die feiner funktioniert als die vorherige. Die älteren sind primitiv, ihre Funktionsweise eher grob und abrupt, nach dem Schema Entweder-Oder und Alles-oder-Nichts. Jede neue Schicht überholt die älteren. Je jünger die Formation, desto feiner ist ihre Funktion. Sie bewirkt abgestufteres, differenzierteres Tun. Die älteren Schichten sind zuverlässiger; sie funktionieren schneller und brauchen weniger Lernzeit. Gilt es das Überleben zu sichern, dann schalten die neueren Schichten ab und lassen die früheren, verlässlicheren, flinkeren Formationen ans Ruder. Die feineren, mannigfaltigeren, neueren Partien werden das Kommando wieder übernehmen, wenn die Gefahr vorüber ist. Die älteren Strukturen werden nicht abgebaut oder zerstört, sie werden bloß latent und weniger offenkundig, bleiben aber unentbehrlich im Notfall. Jede Situation, welche es nicht zulässt, dass wir in aller Ruhe mit ihr fertig werden, löst eine Regression aus, d.h. die älteren Formationen übernehmen das Kommando. Je neuer die Nervenstruktur, desto langsamer ist sie. Nuanciertheit und Mannigfaltigkeit brauchen Zeit und wollen gelernt sein, damit auf das Erwägen des Für und Wider das Nachdenken folgen und schließlich die Wahl getroffen werden könne….“

In dem hier vorliegenden Fall einer inkompletten Querschnittlähmung, kann man davon ausgehen, dass durch die Verletzung der Wirbelsäule die äußeren, neueren Formationen des Rückenmarks als erste geschädigt wurden. Die Verbindung der darunter liegenden alten Strukturen zu den darüber liegenden neuen ist verletzt und nur sehr unzureichend. Die Kommunikation zwischen den einzelnen Formationen ist zumindest sehr stark eingeschränkt, in einigen Bereichen sogar unterbrochen. So nehme ich an, dass in den Fi-Lektionen direkt die älteren Formationen, mit den im Rückenmark gespeicherten Bewegungserfahrungen aus unserer Evolution (Phylogenese), angesprochen werden, und ohne Kontrolle der neueren Schichten spontan ausgeführt werden. Obwohl zu diesem Zeitpunkt noch keine Hemmung durch die kortikalen Schichten über diese spontan ausgeführten Bewegungen möglich ist, benutzt Michael das in den Stunden Erlernte, er integriert es also in seine alltäglichen Bewegungen. So sind für mich die zuvor beschriebenen „Koordinationssprünge“ erklärbar. (s. S. 3)

Dennoch ist es unser Ziel, dass diese autonom ablaufenden Bewegungen auf der Ebene der älteren Strukturen wieder von den kortikalen neueren Strukturen kontrolliert werden können. Wir wollen also eine Durchlässigkeit erreichen von den unteren Schichten unseres Nervensystems zu den neueren oberen Schichten.

Zu diesem Thema schreibt Feldenkrais in „das starke Selbst“, Kap. 9, S. 125 ff „Handlung, Hemmung, Ermüdung“:

„Motorische Zellen neigen mindestens während der Entwicklungszeit dazu, von sich aus aktiv zu sein: Bei der leisesten Anregung von außen oder von inneren Veränderungen her treten erkundende oder untersuchende Handlungen auf. Dadurch entstehen neue Muster, die dazu tendieren, sich zu wiederholen, und diese Tendenz zur Wiederholung ist so stark, dass, wenn die Umgebung das neue Muster auszuführen nicht gestattet, etwa indem sie eine gewohnte und darum bevorzugte andere Tätigkeit begünstigt oder indem sie das sich erst ausprobierende neue Muster unmittelbar hemmt, dieses dennoch in Aktion treten wird, sobald unsere Wachsamkeit nachlässt: im Schlaf, bei Müdigkeit oder bei nachlassender Gesundheit.“…. „Das erste abnorme Stadium von Ermüdung in motorischen Zellen ist der Verlust der Fähigkeit, sie absichtlich zu hemmen. Ermüdete Zellen fahren fort, Impulse auszusenden, die schwache Kontraktionen, Zuckungen und schließlich Muskelkrämpfe erzeugen.“ ….

„Die bewusste Kontrolle ist die oberste, entscheidende Instanz … Die überbeanspruchten Zentren ermüden, die gehemmten leiden an Dystrophie, und das ganze räumliche Körperbild wird verzerrt. Das Körpergefühl erweist sich als unzuverlässig und wird durch vermehrten Gebrauch der Augen kompensiert, um den fehlerhaften Bericht der Muskeln über das räumliche Befinden des Körpers zu ergänzen und zu berichtigen.“ Das starke Selbst, S. 126/127, S. 130

(vgl. Benutzung der Augenkontrolle zum Erlernen neuer Bewegungen S. 2!)

Diese und weitere Aussagen von Feldenkrais bringen mehr Klarheit und untermauern theoretisch meine Erfahrungen. Sie deuten den weiteren Verlauf unserer „Forschungen“ an.

Seit 1992 unternehmen wir immer wieder Versuche, die autonom ausgeführten Bewegungen zu hemmen. Zunächst ist eine Hemmung nur möglich, wenn Michael sich vorstellt, er sei gelähmt; aber selbst dann beginnt die Bewegung sich nach einigen Sekunden wieder aufzubauen, wenn ich mit meinen Händen bei der Information „Stehen“ am 7. Halswirbel bleibe.

Im November 92 arbeite ich mit Michaels Schultern, seinem Nacken und Brustkorb und fordere ihn auf, mit seiner Aufmerksamkeit möglichst ausschließlich in diesen oberen Partien zu bleiben. Erstaunlicherweise bleiben seine Beine dabei die ganze Zeit ruhig. Offensichtlich genügt es auch, die Aufmerksamkeit auf andere Bereiche zu lenken, um autonome Bewegungen zu hemmen.

Im Dezember 1993 bleiben dann ohne weitere Aufforderung die Beine eine ganze Stunde lang ruhig. Nun ist offensichtlich eine neue spontane Hemmung möglich, wohl weil die Körperwahrnehmung inzwischen wesentlich lückenloser als noch vor einem Jahr ist. Michael hat also eine neue, höhere Kontrollebene erreicht. Auch im weiteren Verlauf bleibt diese spontane Hemmung häufig möglich.

Ungewohnte Bewegungsmuster allerdings lassen Bewegung wieder sichtbar werden.

Diese erweiterte Körperwahrnehmung ist leider oft begleitet von störendem Kribbeln der Füße oder sogar vermehrt auch von Schmerzen. Deshalb lässt Michael sich im Frühjahr 94 in einer Schmerzklinik behandeln – der Lumbalisnerv, der für diese ziehenden Schmerzen verantwortlich ist, wird vereist. Allerdings hält die schmerzlindernde Wirkung nur wenige Wochen an.

Mir scheint, dass sich diese Schmerzen auch durch die Erweiterung und Differenzierung der Wahrnehmung verändern. Erstaunlicherweise verschwindet das Kribbeln in den Füßen, wenn ich die entsprechenden Stellen in den Händen komprimiere.

Bezugnehmend auf Schmerzen und Kribbeln in den Füßen und um eine weitere Verbesserung der Tiefensensibilität zu erreichen, experimentiere ich zu einem späteren Zeitpunkt, 1997 nach unserem Advanced Training mit Chava Shelhav, mit globalen Bewegungen in der Seiten- und Rückenlage, (d. h. alles bewegt sich miteinander). Dadurch verändern sich auch sehr rasch die Schmerzen und das unangenehme Kribbeln in den Füßen lässt nach. Michael wird so ruhig, dass er immer wieder auf der Stelle einschläft.

Im Frühjahr 1993, also zeitlich lange zuvor, verbringt Michael einige Wochen in Langensteinbach (wie schon 1990 zur Rehabilitation), um an einem Forschungsprojekt teilzunehmen. Dazu werden die Patienten in einer Tragekonstruktion an Schultern und Kopf über einem Laufbrett gehalten, das unter ihnen rollt und so die Beine und Füße anregen soll, wieder selbständige Bewegungen zu erlernen. Michael nutzt dabei seine Feldenkraiserfahrungen und forscht selbständig weiter, er gewinnt noch mehr Sicherheit. In einem Brief berichtete ich zuvor Prof. W. aus Bonn über unsere bisherigen Erfahrungen mit der Feldenkrais-Methode und werde daraufhin eingeladen, unsere Arbeit in einem Vortrag, der mit Videos unterbaut ist, vorzustellen. Prof. W. kennt die Feldenkraisarbeit nicht. Er ist überrascht, dass Michael, obwohl er keine neurologischen Reflexe in den Füßen und Beinen hat, gehen kann.

Er behauptet, dass Michael nur mit visueller Kontrolle gehen kann, er lässt keine anderen Kontrollebenen zu, z.B. Wahrnehmung der Muskeltonusveränderungen beim Gehen oder veränderte Körperwahrnehmung nach Feldenkraisstunden.

Er hält es außerdem für äußerst ungewöhnlich, dass Michael in der Lage ist, Bewegungsmuster zu erkennen, auch z.B. die Orientierung des Beins im Raum, wenn man immer von einer neutralen Grundposition ausgeht.

In dieser Zeit liegt das Hauptgewicht in unserer Arbeit auf diagonalen Bewegungserfahrungen.

Außerdem geht es zusätzlich immer wieder darum Stabilität und Gleichgewicht zu finden. Während einer Lektion in Rückenlage auf der dicken Rolle unter der Wirbelsäule gewinnt er unglaublich an Sicherheit: zunächst ist er sehr instabil, ich weiß kaum, wie ich ihm Sicherheit geben kann, und will deshalb die Stunde schon abbrechen. Dann bleibe ich bei seinen Knien und stabilisiere sein Becken. Er selbst findet Halt mit Ellbogen und Unterarmen am Boden aufgestützt. Zufälligerweise bringt er zu dieser Stunde sein 17 Monate altes Patenkind mit, das den Spielzeugkorb entdeckt und Michael jede neue Errungenschaft zeigt und ihn auffordert mit ihr zu spielen. So werden ganz spielerisch seine Arme immer freier für Bewegung, er spielt mal rechtshändig, mal linkshändig, schaut dabei selbstverständlich mal nach rechts, mal nach links. So wird er ganz nebenbei immer sicherer auf der Rolle, so dass ich ihn nicht mehr an Knien und Beinen stabilisieren muss. Er kann sich mühelos auf der Rolle bewegen, ohne dass sein Gleichgewicht verloren geht. Am Ende der Lektion ist er fast nicht mehr von der Rolle zu „werfen“. Er erlebt sich danach auf dem Boden, als läge er zwischen zwei Baumstämmen, „wie früher im Wald in der Sonne“ tief eingesunken in seiner Mitte.

Ab 1993 nimmt Michael aus Zeitgründen nur noch FI-Stunden. Er beginnt damit, sich ein Haus zu bauen und hilft sogar selbst tatkräftig mit bei Holzarbeiten, beim Beiputzen… Zu dieser Zeit wird er immer sicherer im Gehen, so dass jetzt auch die linke Beinschiene immer geöffnet bleiben kann (jetzt also beiderseits geöffnet). Bis jetzt fiel ihm auf, wenn das linke Bein sich beugte, jetzt bemerkt er, wenn es sich nicht mehr beugt, d.h. wenn er also bei Ermüdung wieder das alte Muster, mit gestrecktem Bein zu gehen, benutzt.

Trotz all dieser Fortschritte einer detaillierteren Wahrnehmung verletzt sich Michael mehrmals ziemlich ernst. Beim Schaufeln von Granulat erlaubt er seinem Oberkörper eine zu große Drehung, die der Unterkörper nicht auffangen kann. Er erleidet einen Muskelfaserriss im Oberschenkel, ohne dabei Schmerzen wahrzunehmen. Erst der große Bluterguss macht ihn am nächsten Morgen auf eine seine Verletzung aufmerksam.

Ein anderes Mal erleidet er starke Verbrennungen im Gesäß, als er sich auf einem glühend heißen Heizkörper ausruht, ohne die Hitze zu bemerken. Erst als er zu Hause ankommt, wird er stutzig. Durch die nasse Hose wird er auf die riesige Brandblase am Po aufmerksam, die sich schon geöffnet hat.

Am 17.12.93 bleiben Michaels Beine während einer ganzen Lektion ganz ruhig (in Bauchlage mit Schlüsselbeinen, Schulter und Kopf) – eine spontane Hemmung ist wieder möglich, eine neue Kontrollebene ist erreicht. Interessant finde ich, das Michael die Ruhe in seinem Unterkörper zunächst überhaupt nicht bemerkt – er spürt ja sehr gut den „inneren Verlauf“ der Bewegung.

Immer wieder kann ich nun mit dem „künstlichen Boden“ arbeiten, da Michael jetzt auch immer klarer seine Füße wahrnehmen kann. Im Sommer 1996 ist es ihm nach einer solchen Stunde möglich, ohne Stöcke und Beinschienen auf den Zehenspitzen zu stehen. Wir entdecken in dieser Stunde, dass das linke Bein sich erst zum „Stehen“ auf dem Brett organisiert, wenn der Druck ausreichend groß ist (etwa das Gewicht des Beins). Es gibt einen eigenen Rhythmus in der Bereitschaft zum Loslassen und Aufrichten („das ist auch am Tresen so, wenn ich mein Bierchen trinke,“ berichtet Michael).

In der nächsten Stunde arbeite ich in Bauchlage mit dem „künstlichen Boden“ mit ihm. Es ist wichtig, wie die Hände unter dem Kopf liegen und in welcher Richtung der Kopf liegt. Seine Beine kommen bei klarem Druck und richtiger Ausrichtung autonom zum Stehen auf dem Brett. Jetzt versucht Michael, wieder in Rückenlage, mit Hilfe der Augen zu entscheiden, wann die Beine sich ablegen sollen (bewusste Hemmung durch Augenkontrolle).

Nach einer weiteren Lektion am 17.1.97 mit dem „künstlichen Boden“ in Bauchlage, erkennt Michael, dass sich seine Beine selbständig, also ohne seine willentliche Absicht auf dem Brett aufgestellt haben; er bemerkt es daran, dass sich seine Knie von der Bank aufheben und die Beine sich zum Stehen organisieren. Obwohl er auf dem Bauch liegt und dadurch keine Kontrolle durch die Augen hat, ist er jetzt in der Lage, die Knie willentlich wieder auf die Bank zurück zu legen. – Die kortikale Ebene hat wieder die Kontrolle über die unteren Ebenen erreicht.

Bei der Beschreibung dieses Falles ging es mir vor allem darum, meinen Kollegen mitzuteilen, wie tiefe Schichten wir in unserer Arbeit erreichen können. Außerdem ist es sehr interessant, diese autonomen Bewegungen zu sehen und auf Videos zu dokumentieren, denn wir werden nur sehr selten so eindrucksvolle Beispiele beobachten können. Nach Unfall, Schock oder anderen tiefen Störungen kann der persönliche, d.h. ontogenetische Lernprozess auf dieser phylogenetischen Basis beginnen, dem genetisch vererbten archaischen Bewegungspotential. Mit immer verfeinerter Wahrnehmung erreichen wir dann vielleicht wieder die Ebene des lymbischen Systems, das wieder eine höhere Kontrollstufe für die darunter liegende phylogenetische Basis ist. Die Möglichkeit, autonome Bewegungen absichtlich zu hemmen, bedeutet wiederum eine Verbindung zur kortikalen Ebene, der oberen Kontrollinstanz in unserem Nervensystem. Es sind fließende Prozesse, die sich überlagern und ineinander greifen.

Deswegen kann dieser Bericht nicht nur chronologisch sein oder nur systematisch, die Ebenen verweben sich.

Inzwischen ist er eingezogen in sein neues Haus und genießt seine großen Räume und die neue Freiheit, alleine zurechtzukommen.

Wir arbeiten immer noch (nach einer längeren Pause 1995/96) regelmäßig weiter und sind erstaunt, dass wir in jeder Stunde noch neue unerwartete Dinge erleben und lernen können.

In einer der letzten Stunden ließ Michael ganz selbstverständlich seine Krücken zurück im Raum, um etwa 8 m zur Toilette ohne sie und ohne Beinschienen freihändig sicher zurückzulegen.

Beim letzten Besuch berichtete er von einem wirklich ganz überraschenden Ereignis:

Sonntags vor Heiligabend besuchte er mit seinem Auto einen Onkel im Hunsrück. Dort wird er vom schlimmen Glatteis dieses Winters überrascht.

Er versucht, die Scheiben seines Wagens vom Eis zu befreien, hat aber kein geeignetes Werkzeug dabei. Deshalb geht er mehrmals etwa 4 m übers Eis ins Haus zurück und kommt jedes Mal mit einem Eimer warmem Wasser in einer Hand zurück. Nach geraumer Zeit sind die Scheiben frei und er setzt sich ins Auto. Jetzt erst bemerkt er, dass er die ganze Zeit ohne Beinschienen und Krücken den risikoreichen Weg übers dicke, spiegelglatte Eis ganz sicher zurückgelegt hat.

Wenn Sie interessiert sind an meinem Film “Zum Beispiel Michael – Lernen mit der Feldenkrais-Methode” wenden Sie sich über E-Mail bitte an feldenkrais@helgabost.de.

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Literatur:

Auf http://www.physiologie.uni-frankfurt.de/Indoor/Zphys2/Lehre%20-%20Vorlesung%20Prof.%20Roeper/WS-0708/07-Spinal3WS07-8-29-11-07.pdf
ist auf Seite 5 eine Info zur Verlangsamung des Schreitreflexes beschrieben.

 

 

Cindy Allison, Improving Sensory Motor Function after a Spinal Cord Injury (SCI)

The Feldenkrais approach to sensory motor education

ISBN: 978-0-473-14824-9, Febr. 2009