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Vorstellung des Feldenkrais-Projektes der DMSG Saar

(Auszug aus einem Referat bei einer Tagung der DMSG in Hannover 1990)


Im Saarland gab es seit etwa 1987 regelmäßige Feldenkrais-Seminare, (z. B. 5-tägige Kurse und Arbeiten in fortlaufenden Wochenkursen) mit sehr positiven Rückmeldungen von Seiten der Betroffenen. Dadurch entstand bei der Geschäftsführerin der DMSG Saar, Frau Seithe, und dem Feldenkrais-Lehrer, Herrn Russel, der Wunsch, diese Arbeit über einen längeren Zeitraum mit einer identischen Personengruppe durchzuführen.

Dieser Wunsch konnte realisiert werden durch die Zusage der Übernahme der vollen Projektkosten in Höhe von 177 000,- DM durch eine Spende des Sparvereins Saarland e. V. Die Studie begann im Mai 1990 mit einer Gruppe von 25 MS-Betroffenen und erstreckte sich auf 13 Monate an jeweils 30 vollen Arbeitstagen, verteilt auf 11 Wochenenden. Eine zweite Studie mit weiteren 25 MS-Betroffenen begann im Mai 1991.

Die ärztliche Leitung der Studie lag in Händen von Prof. Dr. K. Schimrigk, Universitäts-Nervenklinik Homburg, und von Chefarzt Dr. M. Karst, Neurologe im Knappschaftskrankenhaus Sulzbach. Die Patienten wurden zu Anfang und am Ende der Studie eingehenden neurologischen Untersuchungen in Homburg und in Sulzbach unterzogen, wobei eine gesicherte MS festgestellt wurde mit MS-typischem Liquorprofil und pathologischem kranialen Kernspintomogramm.

Der Behinderungsgrad wurde gemessen an dem Kurtzke-Funktionssystem (2-7: leichte Bewegungseinschränkungen bis zu großen Behinderungen, Rollstuhlfahrer).

Das Projekt wurde psychologisch begleitet von Dipl.-Psychologin Frau Burges, die eine Reihe von Tests durchführte.

Ganz am Anfang, vor der ersten Arbeitseinheit, und ganz am Schluss, nach der letzten Einheit, gab es jeweils ein ganzes Testpaket, bestehend aus:

  • BEB Beschwerdenerfassungsbogen, ein Verfahren zur Neurosendiagnostik, das körperfunktionelle und psychische Beschwerden erfassen sollte.
  • SESA Skala zur Erfassung der Selbstakzeptierung, basiert auf der Persönlichkeitstheorie von Rogers und ist im Zusammenhang mit Depressivität wichtig.
  • FSKN Frankfurter Selbstkonzeptskalen; es geht um Einstellungen zum eigenen Selbst im Alltag, um Selbstwahrnehmung und Selbstbewertung.
  • EWL Eigenschaftswörterliste; erfasst das ganz momentane, augenblickliche Befinden.
  • FEKB Fragebogen zur Erfassung der Krankheitsbewältigung (Trier).
  • Zur Abschlusstestung kam der VEV Veränderungsfragebogen des Erlebens und Verhaltens dazu.
  • Außerdem wurden an insgesamt vier Zeitpunkten während des Projektes der EWL-Test (Eigenschaftswörterliste) durchgeführt, nämlich am Anfang und am Ende von je zwei 4-tägigen Seminaren. Hier sollte der Veränderungsverlauf des Seminars erfasst werden.

Die Studie wurde durchgeführt von den Feldenkrais-Pädagogen Roger Russell und mir, außerdem Ulla Schläfke, einer Feldenkrais-Pädagogin in Ausbildung.

Ziele dieses Projektes aus der Sicht der Feldenkrais-Methode:

  • Die Teilnehmer sollten in einem Prozess der Aufmerksamkeit und Wahrnehmung ihres Körpers geführt werden und ihre Bewegung kennen lernen und integrieren.
    Ein Teilnehmer machte eine wichtige Entdeckung: Er glaubte, eine Bewegung so zu machen, wie sie angesagt war, bis ihm auffiel, dass er etwas ganz anderes tat als er wollte. „Ich kann eine Bewegung nur dann richtig machen, wenn ich ein Konzept davon habe“. Feldenkrais: „Wenn du weißt, was du tust, kannst du machen, was du willst.“
  • Die grundlegende Funktion der Bewegung sollte erforscht und weiterentwickelt werden.
  • Dieser Entwicklungsprozess sollte in den Alltag integriert werden, ebenso die dadurch gewonnenen Möglichkeiten der Bewegung.
    z.B. hatte eine Frau während des letzten Seminar-Zwischenraums sehr viel Arbeit mit der Verwertung des anfallenden Obstes, so dass sie zu Hause nicht üben konnte. Wenn sie allerdings zwischendurch auf der Gartenliege oder im Stuhl zurückgelehnt ausruhte, dachte sie an Feldenkrais-Lektionen, wie es ihr gerade einfiel, ohne sich dabei zu bewegen. Danach ging es ihr erstaunlich viel besser.
  • Jeder Teilnehmer konnte entdecken, dass er einen Prozess der Entwicklung begonnen hatte, wobei seine augenblickliche Situation als Anfang der Entwicklung angenommen wurde, statt sie als »pathologischen Zustand« zu definieren. Wir sehen in den Teilnehmern Menschen, die auf der Suche nach Erleichterung für sich sind und dabei die Feldenkrais-Methode entdeckt haben. Sie haben alle … zufällig … MS.
  • Es sollten Kriterien der Bewegungs-Funktion aus der Sicht der Feldenkrais-Methode festgelegt werden, um das Ergebnis des Projektes zu beurteilen.

Am Anfang und am Ende der Studie wurden von jedem Teilnehmer Video-Aufnahmen gemacht, die einfache Bewegungsabläufe aufzeichneten. Anfangs- und Endaufnahmen wurden dann verglichen.

Zunächst war es wichtig, die Teilnehmer miteinander und mit den räumlichen Verhältnissen vertaut zu machen, sich einzurichten in einer angenehmen, für das Lernen offenen Atmosphäre.

Genau so wichtig war es, einen annehmbaren zeitlichen Rahmen zu finden, der auch den besonderen Bedürfnissen nach Ruhe, häufigem Toilettengang, ausreichend Trinkmöglichkeiten Rechnung trug.

Auf diesem ruhigen sicheren Hintergrund lernten die Teilnehmer sich selbst wahrzunehmen in der Bewegung, sich zu erforschen mit neugierigem Interesse und spielerisch neue Erfahrungen zu machen, frei von Leistungsdruck und zeitlichem Druck.

Eine im Rollstuhl sitzende Frau war z.B. sehr überrascht, dass ihre Beine sich wieder leichter bewegen konnten, obwohl sie zu Hause und auch in den Seminaren den Rollstuhl nicht verließ. Es fiel ihr leichter, im Sitzen zu arbeiten.

Die Teilnehmer lernten, das eigene innere Bild für die Bewegung zu entdecken und nicht nach äußeren Bildern von „richtigen Bewegungen“ zu suchen.

Diese „organisch richtigen“ Bewegungen intuitiv an der Leichtigkeit zu erkennen, ist einer der grundlegenden Prozesse der Feldenkrais-Methode. Das bedeutet gleichzeitig auch Entwicklung von Selbstvertrauen in die eigenen Wahrnehmungen.

Um grundlegende Bewegungsfunktionen zu entwickeln, wurden einige grundlegende Bewegungsthemen gewählt, die in unterschiedlichen Richtungen erforscht und in das persönliche Bewegungsverhalten integriert wurden.

Es ging also darum, neue Handlungsmöglichkeiten zu entdecken und sie in den Alltag zu integrieren beim Gehen, Stehen, Sitzen, beim Aufstehen vom Liegen zum Sitzen, vom Sitzen zum Stehen.

Nach einem Seminar hat ein junger Teilnehmer entdeckt: „Diese Bewegung ist genau die, die ich zum Gehen brauche. So ist es eigentlich ganz einfach.“

Dieser Prozess wurde unterstützt von während der Arbeit entstandenen Tonkassetten, die vervielfältigt an die Kursteilnehmer verschickt wurden. So wurde zwischen den einzelnen Seminaren die Möglichkeit gegeben, Übungen mit den vertrauten Themen des letzten Seminars zu Hause durchzuführen und so eine Kontinuität des Prozesses zu gewährleisten.

Es hat sich herausgestellt, dass diese Unterstützung durch die Tonkassetten von vielen Teilnehmern sehr gerne angenommen wurden. Viele benutzten die Kassetten wie vorgesehen zwei mal eine halbe Stunde in der Woche.

Zum Teil waren die Teilnehmer recht erfinderisch im Gebrauch der Kassetten:

Eine alleinstehende Frau z.B. scheute den Vorbereitungsaufwand für nur eine Stunde und gestaltete sich deshalb „Kassetten-Wochenenden“ mit Arbeitszeiten wie in unseren Seminaren. Montags darauf wurde sie beim Einkaufen gefragt, ob sie eine Kur gemacht habe, sie laufe so viel besser.

Ein anderer, der jede Woche mit dem Auto zum Schwerbehindertensport fuhr, hörte die Kassette während der einstündigen Fahrzeit und hat entdeckt, dass er dann viel leichter aussteigen und gehen konnte.

Eine andere Frau empfand sich als im ganzen Wesen sehr verändert, und wir konnten ihr darin nur zustimmen. Zu Anfang war sie äußerst unruhig und angriffslustig. Danach war sie auch nach eigenem Verständnis ausgeglichen und ruhig. Ihre Stimme spiegelte deutlich die veränderte Grundstimmung wider. Außerdem konnte sie auch jetzt schon längere Strecken ohne Stock laufen.

Eine junge Teilnehmerin, die nur sehr mühsam mit zwei Krücken ging, ließ Matte und Recorder gleich neben dem Bett liegen, um sich so auch immer wieder für kürzere Zeit hinlegen und mit den Kassetten arbeiten zu können. Viel häufiger und intensiver denke sie an „Feldenkrais“ beim Gehen, in der Bewegung, bei der Küchenarbeit. Das sei für sie noch wichtiger als Kassetten zu hören.

Eine von der Krankheit leichter betroffene Frau wurde sehr unruhig, wenn sie sich hinlegte, um zu üben; sie konnte sich nicht auf die Feldenkrais-Arbeit konzentrieren. Viel leichter fiel es ihr, während der Hausarbeit den Recorder anzustellen und bei der Arbeit zuzuhören, ohne etwas zu tun im Sinne von Feldenkrais-Bewegungen. Erstaunt war sie, dass trotzdem ihre rechte Hand wesentlich geschickter wurde.

Vielleicht können Sie an diesen wenigen Beispielen erkennen, wie vielfältig man diese Methode einsetzen kann. So kann man spielerisch individuell – jeder auf seine Weise – für sich Fortschritte erzielen.

Zum Schluss möchte ich sagen, wir können nicht erwarten, dass die Feldenkrais-Arbeit die MS als Krankheit heilt. Optimistisch aber sind wir darin, dass es gelingen kann, mit interessierten Menschen Möglichkeiten zu entwickeln, mit denen sie sich das Leben erleichtern können.

Was heißt in diesem Zusammenhang „Krankheit“ oder „Behinderung“?

Wenn wir uns bewusst machen, dass Erwachsene nur etwa 20 % ihres Lernvermögens nutzen, erkennen wir, wie wir uns alle selbst behindern, wenn wir nicht bereit sind, weiter zu lernen, weiter zu wachsen.

Mit der Feldenkrais-Methode zu arbeiten bedeutet eine Weiterentwicklung der ganzen Persönlichkeit, ein inneres Wachsen.

Das bedeutet, das Bild, das wir von uns haben u entdecken, weiter zu weben, zu knüpfen, zu gestalten. Dieses Weben des Selbstbildes ist die Basis für ein wacheres, lebendigeres Leben, ein Weg zum Selbst, ein Weg, Körper, Geist und Seele zu erfahren als ein miteinander verbundenes untrennbares Ganzes.

Anmerkung:
Dieses Referat hielt ich 1991 anlässlich einer Tagung der DMSG Deutschland in Hannover. Das vollständige Referat ist erschienen in der Zeitschrift: Krankengymnastik 3/91, Seite 238.
Es berichtete über ein damals gerade angelaufenes Projekt, dessen 2. Phase erst im Mai 1991 mit weiteren 25 Teilnehmern begann.

Nach Abschluss des Projektes erschien die:
Feldstudie zur Wirksamkeit der Feldenkrais-Methode bei MS-Betroffenen

Autoren:
Helga Bost, Feldenkrais-Lehrerin
Susanne Burges, Diplom-Psychologin
Roger Russell, Feldenkrais-Lehrer
Dr. Heinrich Rüttinger, Neurologe
Ulla Schläfke, Feldenkrais-Lehrerin
 

Wissenschaftliche Leitung:
Prof. Dr. Klaus Schimrigk
Direktor der Universitätsnervenklinik
666424 Homburg
 

Herausgeber und Vertrieb:
Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft
Landesverband Saarland e.V.