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Vortrag Berlin 2012

Script des Vortrags in der Forschungswerkstatt des Symposiums „Feldenkrais und Forschung II“,
Berlin, 23. Februar 2012

Berlin Wissenschaftssymposium Förderverein Somatisches Lernen

Helga Bost: Ein neues Selbstbild entwickeln
 mit Hilfe der Feldenkrais®-Methode               


1. Falldokumentation
 Michael: inkompletter Querschnitt im Übergang Brust-Lendenwirbelsäule  

Wie vielleicht einige von Euch wissen, arbeite ich schon seit mehr als zwanzig Jahren mit Michael, der im Alter von 29 Jahren nach einem Motorradunfall im Übergang zwischen Brust- und Lendenwirbelsäule einen inkompletten Querschnitt erlitt. Dabei waren die sensorischen Nervenbahnen mehr verletzt als die motorischen. Etwa sechs Wochen nach dem Beginn unseres gemeinsamen Arbeitens begann eine sehr aufregende Zeit: Alle Bewegungsangebote, die ich Michael in der Funktionalen Integration (FI) gab – und dabei wählte ich vor allem Grundbewegungsmuster –  wurden in sichtbare Bewegung umgesetzt. Allerdings konnte Michael die Bewegung noch nicht spüren. In einem ersten Feedback beschrieb er einen „inneren Schauer“: das war also die erste sensorische Wahrnehmung unterhalb seines Querschnitts.  

 


Folie 2 / Film Michael 1 / Text zu Film Michael 1


„Ich wusste, zu diesem Zeitpunkt konnte Michael seine Füße noch nicht spüren. Meine Idee war, ihn an das Stehen zu erinnern. Ich habe mit meinen Händen seine Wirbelkörper von oben her neben dem siebten Halswirbel auf eine Weise nach unten geschoben, wie sie sich organisieren würden, wenn er stehen könnte. Tatsächlich bewegen sich seine Beine einwärts. Seine Füße beugen sich. Er bekommt einen Tonus von den Füßen bis nach oben. Er organisiert sich wie zum Stehen auf einem imaginären Fußboden. D. h. sein Nervensystem hat meine Impulse auf einer tiefen motorischen Ebene verarbeitet.
Er hat das selbst zu diesem Zeitpunkt noch nicht gespürt. Die Nervenbahnen, die zuständig sind für die Rückmeldung und Rückkoppelung, sind zerstört. Er musste jetzt vor allem lernen, sich wahrzunehmen.“  

Mehr und mehr lernte Michael, sich entlang des inneren Verlaufs dieser großen nach außen hin sichtbaren Bewegungen zu spüren. Allerdings konnte er zunächst diese großen Bewegungen nicht hemmen, jedoch konnte er sie in den alltäglichen Bewegungen nutzen – er lernte wieder laufen und sein Laufen wurde immer sicherer.  

 


Folie 3 / Film Michael 2 / Text zu Film Michael 2


„Das gleichseitige Bein bewegt sich wie zum Stehen und dann beginnt das andere sich zu beugen. Und ich kann abwechselnd mal rechts, mal links von oben schieben. Michaels Beine bewegen sich wie beim Gehen. 

 


Folie 4 / Film Michael 3 / Text zu Film Michael 3 „

Drei Monate später arbeite ich mit Michael in der Bauchlage (sein Kopf liegt auf dem rechten Ohr, also mit Blick nach links). Ich möchte mir ein Bild machen von seiner Wirbelsäule. Ich gehe also mit meinen Fingern ganz sanft links neben seiner Wirbelsäule entlang, mit leichtem Druck nach innen und oben – diese sanfte Berührung leitet eine seitliche Beugung, eine Lateralflexion ein, wie wir sie beginnen, um uns zum Kriechen zu organisieren. Und dann beginnt sich tatsächlich sein linkes Bein im Knie zu beugen und zieht sich seitlich auf der Ebene der Liege nach oben. Wenn ich meine Hand wegnehme, geht alles auch wieder zurück zur neutralen Ausgangsposition. Diese Reaktion kann ich Wirbel für Wirbel nach oben abrufen. Und sie wird deutlicher, je weiter ich nach oben gehe, also oberhalb des Querschnitts. Im Laufe der Zeit fällt mir auf, dass diese Bewegungserforschung und die Bewegungsinformation von vielen verschiedenen Stellen angeboten werden kann. Wenn sie von Michaels System zu einem Muster zugehörig erkannt wird, dann kann das ganze Muster ausgelöst werden. Ich kann später auch von den Schultern her oder vom Kopf her oder von den Füßen her – von den Stellen her, wo er gelähmt ist oder war, – die kompletten Muster hervorrufen.“   Bald arbeite ich in dieser Stunde mit Sprache weiter und bitte Michael, seinen Kopf zu drehen. Ich sehe, wie dabei bereits das ganze Bewegungsmuster angesprochen wird. Er fragt nach einigen Malen: „Bewegt sich mein Becken?“ Ich bejahe, lenke seine Aufmerksamkeit auf das Knie und er fragt: „Geht mein linkes Knie in die Beugung?“ Dann bitte ich ihn, seine Füße zu beachten, und bemerke wie sich schon bei der nächsten Bewegung die Füße deutlicher beugen. Und auch Michael bemerkt das. Ich berühre ihn bei einem der nächsten Bewegungsversuche am Fuß und er bemerkt ein leichtes Kribbeln. Zum ersten Mal bemerkt er meine Berührung an den Füßen.   Durch diese kräftige innere Bewegungsanbahnung lernt Michael, sich wieder wahrzunehmen. Ein neues Körperbild entsteht.   Nach etwa drei Jahren setzte eine spontane Hemmung bei bekannten Bewegungsmustern ein. Michael bemerkte: „Ich kann diese Bewegungen ja jetzt innerlich spüren, da braucht es doch die großen Bewegungen nicht mehr.“ Eine willentliche Hemmung – eine Kontrolle – war erst viel später möglich.   Ich habe Videoaufnahmen gemacht und diesen zehnjährigen Prozess des gemeinsamen Lernens 2000 in einem Film mit Hilfe unserer Kollegin, der Regisseurin Rotraut Kühn, dokumentiert: „Michael – Lernen mit der Feldenkrais-Methode“. Dieser Film zeigt auch, wie Michael seinen Alltag meistert und wie sich meine Arbeitshypothesen entwickelten.     Zuvor lud ich Herrn Prof. Klaus Schimrigk ein, den ehemaligen Leiter der Neurologie in Homburg, wo Michael auch operiert wurde. Ich zeigte ihm Videoausschnitte und sprach mit ihm über meine Arbeitshypothesen. Er hatte solche Bilder noch nicht gesehen und auch noch keine Beschreibung ähnlicher Phänomene in der Literatur gefunden. Trotzdem machte er mir Mut, auch meine Arbeitshypothesen und Gedanken dazu zu äußern.

 


Folie 5

Michael – inkompletter Querschnitt
• Bewegungsanbahnung über Berührung in FI
• Bewegungswahrnehmung auf einer Ebene unterhalb der bewussten Wahrnehmung
• Große Bewegungen ohne Hemmung
• Erste Wahrnehmung: „innerer Schauer“ • Ausdifferenzierung der Wahrnehmung entlang innerer Bewegungsbahnen der „Urbewegungsmuster“, vgl. Moshé Feldenkrais, Das starke Selbst, S. 217
• „Zug- / Druck- / Scher- / Gleitbewegung, Strömung / Fluss / Vibration / Wärme / Bewegungsbahnen“
• Entstehung eines neuen Körperbildes
• Neues Körperbild wird Basis für neues Selbstbild.
• Bewusste Bewegungsgestaltung
• Bewusste Lebensplanung (beschrieben im Film „Zum Beispiel Michael – Lernen mit der Feldenkrais-Methode)  

 


Folie 6

Meine Arbeitshypothese
• Grundbewegungsmuster sind auf der Ebene des Rückenmarks gespeichert und können abgerufen werden ohne Steuerung des motorischen Cortex.
• Sensorische Rückmeldungen zum Gehirn begünstigen Bewegungssicherheit und Bewegungsfluss.
• Durch die Wahrnehmung dieser inneren Prozesse entsteht ein neues Körperbild. • Auf dieser Basis werden Planung und Koordination von Bewegung möglich.  Ein ausführliches Interview mit Carl Ginsburg über seine Erfahrungen mit dem „Shake a leg“-Programm ergänzt den Film „It is really part of two things, one is to simply research what we are doing, but the other is to present that research in a way, that people can see and understand it – and respond to it.“  

Ich habe den Film in vielen Städten bei Regional- und Arbeitstreffen gezeigt und auch Workshops dazu gegeben. Den Film gibt es in deutscher und englischer Sprache.  

Einmal kam nach der Vorführung eine Frau auf mich zu und sagte: „Das ist meine Geschichte. Ich hatte eine Querschnittlähmung und habe wieder laufen gelernt.“ Ihre Erfahrungen hat sie veröffentlicht als Diplomarbeit (s. Literaturliste) und danach hat Irene Lober eine Feldenkrais®-Ausbildung gemacht. Irene hat mich beim Übersetzen des Films ins Englische unterstützt.  

In meinen schriftlichen Aufzeichnungen zu Michaels Entwicklung fielen mir immer wieder Eintragungen über auftretende starke Schmerzen, ähnlich Phantomschmerzen, auf. Diese kann ich auch über meine Hände als heftige innere Bewegung in Michaels Beinen und im Becken spüren. Sie entstehen offensichtlich, wenn durch den anstrengenden Alltag das Körperbild verloren geht. Ich entdecke, dass die Schmerzen sich reduzieren und verschwinden, sobald Michael sich in einer Spannung, in Wärme und Bewegung spürt. Das praktizieren wir bis heute zu Anfang jeder Stunde. Erst danach beginnt die eigentliche FI.

 


Folie 7

Arbeitshypothese „Schmerz“
• Verlust des Selbstbildes – Schmerzen • Reframing: Schmerzen sagen, wo der Körper ist. • Schmerzen ersetzen durch etwas Anderes, das sagt, wo der Körper ist: „Zug- /Druck-/Scher- /Gleitbewegung, Strömung / Fluss / Vibration / Wärme“   Michael ist 1993 in Langensteinbach zur Kur. Man wundert sich über seine Fähigkeiten und fragt, was er dafür mache. Ich werde eingeladen, unsere gemeinsame Arbeit zwei Stunden lang dem gesamten Team – auch mit Videoaufzeichnungen – vorzustellen. Prof. Anton Wernig, Bonn, macht zu dieser Zeit in Langensteinbach erste Versuche mit dem Laufband, am nächsten Morgen führt er mich durch seine Abteilung. 2002 veröffentlichte er eine Studie: „Rückenmark steuert komplexe Bewegungsmuster“ (Link, s. Literatur).   Zitate aus dieser Studie:
• „Die Laufband-Therapie, Anfang der 90er Jahre von Professor Dr. Anton Wernig von der Universität Bonn entwickelt, ermöglicht vielen Querschnittgelähmten, wieder eigenständig kurze Distanzen zu gehen.
• Richtig therapiert, gelingt es den Patienten, im Rückenmark gespeicherte komplexe Bewegungsmuster abzurufen und diese zu trainieren – auch dann, wenn die Betroffenen sonst nur wenig willkürliche Kontrolle über ihre Beinmuskeln ausüben können.
• Das zeigt eine Studie, die Professor Wernig und seine Mitarbeiter nun im angesehenen amerikanischen Journal of Neurotrauma veröffentlichen.“ 

 


2. Falldokumentation
 Andrea: seitliches Schleudertrauma, schlaffe Lähmung links, Wahrnehmungsverlust der linken Körperhälfte  


Im April 1992 kam Andrea, die bei einem Autounfall ein schweres seitliches Schleudertrauma erlitten hatte. Dabei hatte sie die Wahrnehmung ihrer linken Körperhälfte verloren, sie hatte eine schlaffe Lähmung der linken Seite.
 Auch bei ihr wurden bald in FI alle Impulse als fließende Bewegungen der linken gelähmten Körperhälfte sichtbar. Sie konnte sie nur als innere Gänsehaut wahrnehmen. Leider war es ihr auch später nicht möglich, ihre linke Körperhälfte mehr zu spüren – z. B.  erkannte sie nachts an der Unbequemlichkeit der rechten Körperseite, dass sie nicht richtig lag, und musste das Licht anmachen, um Abhilfe zu schaffen. Bei unserer Arbeit stellte ich Spiegel auf oder schloss die Kamera an einen Monitor an, damit sie sehen konnte, wie ihre linke Seite arbeitete.
Obwohl sie ihre linke Seite kinästhetisch kaum wahrnehmen konnte, verbesserte sich ihr Bewegungsvermögen sehr rasch – so begann sie noch im ersten Sommer, wieder Federball zu spielen.
Bei ihr wurden die Bewegungen ohne größere zeitliche Verzögerung innerhalb einer Sekunde auch über entfernte Distanzen (Hand – Fuß) mühelos und fließend übertragen.  

 


Folie 8 / Film Andrea / Text zum Filmausschnitt Andrea

„Bei ihr werden auch ähnlich große Bewegungen durch meine Berührung hervorgerufen, allerdings nur auf der linken Seite. (Andrea im Hintergrund: „Was ist denn hier los?“ – Sie spürt, wie ihr linkes Bein das rechte Bein in der Bewegung berührt.)
 Die rechte Seite ist gehemmt – sie hat eine spontane Hemmung so wie ganz gesunde Menschen. Auf der rechten Seite wird die Bewegung nicht ausgeführt, im besten Fall innerlich erlebt. Aber die linke Seite ist noch nicht angebunden an die höheren Zentren. Da ist das große reflektorische Muster noch ausgelöst – diese „Alles-oder-Nichts-Bewegung“. (Vgl. Feldenkrais, Die Entdeckung des Selbstverständlichen, S. 217)
 Beide, Michael und Andrea, müssen wieder lernen, diese großen Bewegungen wahrzunehmen und zur Verfügung zu haben, zu kontrollieren.“  

 


Folie 9

Falldokumentation Andrea: seitliches Schleudertrauma, schlaffe Lähmung links, Wahrnehmungsverlust der linken Körperhälfte
• Bewegungsanbahnung über Berührung in Feldenkrais®-Funktionale Integration
• Bewegungen werden ungehemmt gespiegelt über die Diagonale ausgeführt (Becken – Schulter / Ellenbogen – Knie / Hand – Fuß).
• Bewegung wird wahrgenommen als innere Gänsehaut.
• Bewegung wird nicht differenziert, sondern nur optisch wahrgenommen.
• Trotzdem mehr Bewegungssicherheit und Bewegungsfluss
• Bewusste Bewegungsgestaltung wird möglich.

Beispiel: FI im Sitzen auf dem Stuhl

Ich stabilisiere Andrea über leichten Druck auf ihre Hände, die auf den Oberschenkeln liegen. Ich „spiele“ mit ihrer rechten Hand die „Scheibenwischerlektion“, die wir für die Füße kennen. Jede Handbewegung zeigt sich innerhalb weniger als einer Sekunde im Fuß. Das heißt, wenn ich die Finger aufhebe, heben sich fast zeitgleich die Zehen bis zur Ferse – der gelähmte Fuß beugt sich. Hebe ich das Handgelenk, hebt sich die Ferse. Ich bewege die Finger nach rechts und links – der Fuß hebt sich und bewegt sich nach rechts und links. Bald bemerkt sie das und schaut, „was da unten passiert“. Sie macht jetzt diese Bewegungen mit dem rechten Fuß und staunt, dass das ziemlich anstrengend ist.
Gegen Ende der Stunde frage ich sie, ob sie diese Bewegungen für den linken Fuß denken kann. Nach kurzer Überlegung sagt sie: „Ich kann das nicht nur denken, ich kann das auch machen.“ Und sofort bewegt sie ihren linken Fuß und beginnt auf dem Stuhl sitzend, mit beiden Füßen „Charleston“ zu tanzen.   Ich habe auch viele Stunden mit Andrea auf Videos dokumentiert. nach oben Das Phänomen der über die Diagonale gespiegelten Bewegungen kann ich auch bei mehreren anderen KlientInnen mit Halbseitenlähmung beschreiben.
 Alle haben mehr Wahrnehmung als Andrea. Die Bewegungen dieser Klientinnen werden kaum sichtbar – sie sind also mehr gehemmt. Aber sie beschreiben ähnlich wie Michael einen inneren Zug, Vibration und Kribbeln entlang der Bewegungsanbahnung. Sie sind nach solchen Erfahrungen z. B. in der Lage, ihren gelähmten Fuß zu bewegen, und haben einen deutlich veränderten Kontakt des Fußes am Boden.  

3. Suche nach Antworten in Artikeln und Büchern  

Eine Studie von Franz Mechsner, Neurophysiologie: Ein Gefühl für Bewegung, GEO Magazin Nr. 04/2002. „Handbewegungen werden vermutlich über die Wahrnehmung koordiniert. Und nicht, wie jahrzehntelang angenommen, über motorische Strukturen im Nervensystem…
Das Experiment ist einfach: Hände nebeneinander, Handrücken dabei nach oben und dann die ausgestreckten Zeigefinger periodisch gemeinsam erst nach links und dann nach rechts bewegen. Bei langsamem Tempo ist das einfach, aber mit schneller werdendem Takt schalten die meisten Menschen plötzlich unwillkürlich um und bewegen die Zeigefinger symmetrisch gegeneinander.“

2003 habe ich Franz Mechsner in München getroffen und mich mit ihm ausgetauscht. Mechsner hielt den Einführungsvortrag der Jahrestagung 2004 des Feldenkrais-Verbands Deutschland in München.  

2008 bekam ich Post aus Neuseeland. Unsere Kollegin Cindy Allison trug weltweite Erfahrungen der Feldenkrais®-Arbeit mit Querschnittgelähmten zusammen. Sie hat ein booklet veröffentlicht und ist so großzügig, dass ich es Interessierten weitergeben kann. SCI and Feldenkrais – February 2009  

2009 feierte ich 20 Jahre FK in meiner Praxis. Von meinen KollegInnen bekam ich ein sehr hilfreiches Buch geschenkt: Thomas W. Myers, Anatomy Trains: Myofasziale Leitbahnen. München, 2. Aufl.2009, 1. Aufl. 1999   Im folgenden Jahr nahm ich an einem Workshop mit Robert Schleip zum Thema „Faszien“ in Stuttgart teil. 

2010 war ich zu einem Wissenschaftstreffen am Bodensee eingeladen. Mit unserem Kollegen, dem Neurologen Thomas Hassa, hatte ich ein unterstützendes Gespräch. Er gab mir den wichtigen Hinweis auf die Zusammenfassung einer Vorlesung über den „central pattern generator“ (J. Roeper, Spinale Systeme III, Physiologie-Vorlesung, 29.11.2007, WS 2007/2008, Uni Frankfurt/M.).
Link: http://www.physiologie.uni-frankfurt.de/Indoor/StudInfo/Archiv/WS%202007_2008/Hauptvorlesung%20Physiologie%20WS%20200708/Vorlesung%20Prof.%20Dr.%20J.%20Roeper/07-Spinal3WS07-8-29-11-07.pdf    

Einige meiner Arbeitshypothesen bestätigten sich im Nachhinein.  

 


4. Falldokumentation
Werner: komplette Querschnittlähmung vom vierten bis zum sechsten Brustwirbel  


Seit drei Jahren arbeite ich nun mit Werner. Er kam bei einem Sturz von der Leiter so ungünstig auf einer Treppenstufe auf, dass er einen kompletten Querschnitt erlitt in Höhe des vierten bis sechsten Brustwirbels. Dazu kam dann etwa vier Monate später eine Syrinx – ein mit Rückenmarksflüssigkeit gefüllter Sack beschädigt zusätzlich die Nerven zum linken Arm. Werner konnte sich zu Beginn unserer Arbeit nur spüren vom vierten Brustwirbel an aufwärts zum rechten Arm und die rechte Gesichtshälfte. Er hatte keine klare Kopfkontrolle und brauchte seine Hände beim Sitzen als Stütze. Im linken Arm und in der linken Gesichtshälfte hat er starke Wahrnehmungsstörungen in Folge der Syrinx. Z.B. verbrennt er sich im Sommer 2011 die linke Hand beim Grillen und bemerkt es erst zwei Tage später, als die Brandblase aufgegangen war und den Schreibtisch nass gemacht hat.  

Einige Wochen nach dem Beginn unserer gemeinsamen Arbeit bemerkte Werner seitlich unterhalb der sechsten Rippe eine Bewegung, die er beschrieb, „wie ein Wurm, der sich bewegt“. Dieser „Wurm“ zeigte sich immer wieder auch an anderen Stellen. Das war seine erste Wahrnehmung.
Ein halbes Jahr später bemerkt er beim Sitzen „spitze Knochen“ in seinem Becken und das bringt ihm sehr viel mehr Gleichgewicht – er kann ein Kirschkernsäckchen werfen und fangen, ohne aus dem Rollstuhl zu fallen.
Immer mehr breiten sich diese ersten Wahrnehmungen aus und differenzieren sich. Entlang der langen Bewegungsbahnen nimmt Werner Zug und Druck, lebendiges Kribbeln und Schweregefühl wahr. Er beschreibt das sehr klar entlang myofaszialer Bahnen, wie sie beschrieben sind in Abbildungen und Texten in T. Myers, Anatomy Trains, 2. Aufl., 2009.
Inzwischen sagt Werner, „ich habe wieder einen Körper“. Er spürt auch, wo seine Füße stehen, wo seine Knie sind …  Allerdings hat er unterhalb des Querschnitts, ähnlich auch wie Michael kaum „warnende“ Schmerzen – das führt immer wieder zu schwierigen Situationen, z. B. Blasenentzündung, Verbrennung …  

 


Folie 10

Werner – komplette Querschnittlähmung vierter bis sechster Brustwirbel

• Erste Wahrnehmung: „Wurm“ unterhalb des sechsten Brustwirbels
• Wahrnehmung entsteht entlang von Bewegungsbahnen als „Zug- /Druck- /Scher- /Gleitbewegung, Strömung / Fluss / Vibration / Wärme“.
• Mehr Bewegungssicherheit und Bewegungsfluss
• Entstehung eines neuen Körperbildes
• Auf dieser Basis entsteht ein neues Selbstbild.
• Eine neue Lebensgestaltung
• Seit Ende 2011 können Bewegungen auch unterhalb des Querschnitts geplant und ausgeführt werden.  

Im Dezember 2011 liegt Werner auf einer Seite. Wir erarbeiten in einer Stunde am Thema Schulter Becken – Ellenbogen / Knie vor und zurück. Ich bewege seine Schulter vor und zurück. Er nimmt die dadurch entstehende Bewegung in Rücken und Becken wahr. Daraufhin bitte ich ihn, sein Becken zu bewegen. Zunächst versucht er, sein Becken über Bewegungen des oberen Brustkorbs vor und zurück zu bewegen. Ich bitte ihn, an sein Becken als Motor der Bewegung zu denken. Und zu unserer gemeinsamen Überraschung steuert er die Bewegung direkt vom Becken aus und nimmt dabei die dadurch entstehende Bewegung in Rücken und Becken wahr. Er schiebt auch das Knie nach vorne. Ich sehe, dass er sich anders organisiert als zuvor, und er spürt das auch. Andere Muskelgruppen im unteren Bauch sind angesprochen. Noch in dieser Stunde ist er in der Lage, Becken und Schulter, Knie und Ellenbogen nicht nur miteinander und getrennt, sondern auch in entgegengesetzte Richtungen zu bewegen.        

Werner beschreibt diesen Prozess so: er braucht ganz viel Ruhe, um in sich hinein zu lauschen, dann kann er die Bewegung innerlich wahrnehmen. Und die Erfahrung bleibt auch als Wahrnehmung innerer Bewegung noch einige Stunden nach unseren Erforschungen spürbar. Er nimmt also nach jeder Stunde „ein neues Steinchen dieses großen Körperbild–Puzzles“ mit nach Hause. Und das ist eine große Beglückung für ihn selbst, seine Frau – die ihn immer begleitet und staunend selbst ausprobiert – und natürlich auch für mich.        

Ich gehe davon aus, dass diese klare Wahrnehmung entlang der myofaszialen Bahnen geschieht, die in der Lage sind Informationen zu speichern, die evtl. auch vom zentralen Nervensystem (ZNS) als funktionelles Bewegungsmuster interpretiert werden und möglicherweise weitergeleitet werden an den central pattern generator.  

Werners Alltag hat sich enorm verändert:

• Er ist morgens nur noch etwa zehn Minuten auf fremde Hilfe angewiesen.
• Er ist inzwischen in der Lage, sich vom Rollstuhl aus überall hin umzusetzen.
• Er hat einen computergesteuerten Hometrainer, ein „Motomed“, den er vor den Rollstuhl stellt. Dieser Trainer kann Werners Beine bewegen wie zum Fahrradfahren, gibt Auskunft, wie viel Kraft er selbst beisteuert, und zeigt an, dass er nach einiger Zeit immer wieder aus eigener Kraft tritt (central pattern generator), allerdings geht das am leichtesten rückwärts. Dadurch, dass er sich mühelos im Rollstuhl aufrichten kann, sind seine Hände frei. Er macht einen mehrtätigen Speckstein-Bearbeitungskurs. Im Jahr darauf beginnt er, mit Acryl zu malen.
• Er hat sich ein E-Rad (Handybike)  gekauft, das er vor seinen Rollstuhl spannt und bewegt mit den Armen dieses Fahrrad. Er unternimmt mit seiner Frau ausgedehnte Radtouren wie früher.
• Er nimmt Teilzeit-Arbeit auf der Bank auf – fährt die acht Kilometer dorthin bei schönem Wetter mit dem Rad hin und zurück auf der stillgelegten Bahntrasse.
• Er hat sich einen Rollstuhl zugelegt, der ihn zum Stehen bringt. Dadurch hat sich sein ganzes System an den aufrechten Stand gewöhnt und die Hausarbeit wird wieder leichter.
• Er hat sich seinen Garten so umfunktioniert, dass er mit dem Rollstuhl zwischen die Beete fahren kann, um wieder Gartenarbeit zu verrichten.
• Er hat sich einen Aufsitzrasenmäher gekauft – darauf ließ er sich einen Traktorsitz montieren. Über eine Palette kann er umsteigen und mit Freude wie früher seine große Wiese pflegen.    


Folie 11

Meine Arbeitshypothese

• Wahrnehmung von Bewegung auf tiefer Ebene –  der Ebene der Faszien
• „Zug- /Druck- /Scher- /Gleitbewegung, Strömung / Fluss / Vibration / Wärme“
• Ein neues Körperbild entsteht.
• Ein neues Selbstbild entwickelt sich.
• Bewegungsplanung und Koordination unterhalb des Querschnitts werden möglich.
• Das körperweite fasziale Netzwerk ist in der Lage, Informationen zu speichern, die vom zentralen Nervensystem (ZNS) als funktionelles Bewegungsmuster interpretiert und evtl. weitergeleitet werden können an den sogenannten central pattern generator.    

5. Faszien und Kommunikation  

„Es sind diese Zellen, die das Substrat für alle anderen Zellen erschaffen, indem sie die stabile, formgebende Matrix bilden, die uns zusammenhält. Sie bilden das gemeinsame kommunikative Umfeld für alle unsere Zellen – was Varela (The organ of form, Journal of Social Biological Structure 1987; 10:73-83) als eine Form der „Exo-Symbiose“ bezeichnet hat –, geben uns Form und ermöglichen uns geleitete Bewegungen.“ Myers, a. a .O., S. 16.   „Es verbindet jede Körperzelle mit ihrem Nachbarn und sogar […] das innere Netzwerk jeder Zelle mit dem mechanischen Zustand des Körpers als Ganzem. […] Teil seiner verbindenden Funktion mag in seiner Fähigkeit, Information zu speichern und im ganzen Körper weiterzuleiten, begründet sein.“ Myers, ebd., S. 19.   Diese klare Wahrnehmung entlang der myofaszialen Bahnen bringt mich zu einer neuen Frage und Arbeitshypothese. Kann dieses körperweite fasziale Netzwerk auch mit dem central pattern generator auf der Ebene des Rückenmarks kommunizieren, der seinerseits Grundbewegungsmuster generieren kann?    

 


Folie 14

Zusammenfassung in umgekehrte Reihenfolge – „Rolle rückwärts“

• Wahrnehmung von Bewegung auf der Ebene der Faszien (vgl. auch Michael, Andrea und Werner).
• „Zug- /Druck- /Scher-/ Gleitbewegung, Strömung / Fluss / Vibration / Wärme“
• Das Faszien-Netzwerk speichert die Information und leitet sie weiter.
• Dadurch kann das „central pattern“ generiert werden. Selbst wenn die fasziale Stimulation in entfernteren Körperbereichen generiert wird, kann das Muster auf diese Weise erkannt werden (vgl. auch Michael, Andrea und Werner).
• Propriozeptive Rückmeldungen zum ZNS begünstigen Bewegungssicherheit und Bewegungsfluss.
• Durch die Wahrnehmung dieser inneren Prozesse kann ein neues Körperbild entstehen.
• Auf dieser Basis werden eine verbesserte Planung und Koordination von Bewegung möglich.
• Ein neues Selbstbild kann sich entwickeln. 

 


Folie 15

Literatur
• Moshé Feldenkrais, Die Entdeckung des Selbstverständlichen, Frankfurt am Main, Suhrkamp Taschenbuch, 1987.
• Moshé Feldenkrais, Die Feldenkrais-Methode, Bewusstheit durch Bewegung. Moshé Feldenkrais in der Alexander-Yanai-Straße, Band 1 bis 8, München, FVD Feldenkrais-Verband Deutschland, 2005 ff.
• Helga Bost, Film: Zum Beispiel Michael – Lernen mit der Feldenkrais-Methode, 2000 (zu beziehen über Helga Bost).
• Franz Mechsner, GEO Magazin Nr. 04/2002, www.Geo.de/mensch/medizin/462.hmtl.
• Professor Dr. Anton Wernig, http://www3.uni-bonn.de/die- universitaet/informationsquellen/presseinformationen/pressemitteilungen/252_02
• Vorlesung Spinale Systeme III, Roeper 29.11.07, Physiologie-Vorlesung WS07/8-7.
• Thomas W. Myers, Anatomy Trains: Myofasziale Leitbahnen, München,  2. Aufl.2009, 1. Aufl. 1999.
• Cindy Allison, Recovering Motor Funktion after a Spinal Cord Impairment (SCI) – The Feldenkrais approach to sensory motor education, 2008.
• Irene Lober, Auf eigenen Füßen gehen – Somato-psychologische Erfahrungen einer ehemals Querschnittgelähmten, Darmstadt, Der Grüne Zweig 131, 1988. Neuerscheinung:
• „Fascia: The Tensional Network of the Human Body“. Hrsg. v. R. Schleip, Findley, Chaitow, Huijing; München, Elsevier 2012.    

 


Folie 16

Danke für Eure Aufmerksamkeit
• Dank an Michael, Andrea und Werner
• Dank an alle, die mich auf meinem Weg unterstützt haben
• Ich bitte um weitere kollegiale Unterstützung, damit diese Erfahrungen mehr Menschen zugänglich werden.