Die Feldenkrais-Methode und ihre Wirksamkeit bei MS-Betroffenen
Helga Bost, Gilde lizenzierte Feldenkrais-Lehrerin, St. Wendel / BRD
Zeitschrift der Schweizerischen Multiple Sklerose Gesellschaft
MS-AKTUELL, Schmerzen bei MS. Nr. 3, Herbst 1995, 36. Jahrgang
Die Feldenkrais-Methode bietet dem Menschen eine Möglichkeit, zu jedem Zeitpunkt seines Lebens den Prozess des organischen Lernens wieder aufzugreifen, wie es spontan geschieht bei kleinen Kindern bis zu 4 – 5 Jahren, die auf sinnlich forschende Art und Weise sich selbst und ihre Umwelt entdecken in sicherer, ruhiger Atmosphäre, neugierig, wachsam, offen für alles Neue.
Moshé Feldenkrais, 1904 in Russland geboren und 1984 in Tel Aviv gestorben, entwickelte seine Methode mit dem Ziel «Lernen zu lernen» auf der Basis seines enormen Wissens als Judomeister, Physiker, Elektroingenieur, Verhaltensforscher, seines Wissens in der Verhaltensphysiologie und -psychologie und der Neurologie. Viele Jahre arbeitete er mit Menschen, die bei ihm Hilfe suchten wegen körperlicher Leiden, geistiger Nöte und emotionaler Schwierigkeiten, oder auch mit Menschen ohne wesentliche Störungen, die daran interessiert waren, sich persönlich weiterzuentwickeln.
Feldenkrais entwickelte zwei Techniken, seine Methode zu unterrichten – Bei der «Funktionalen Integration», einer nicht verbalen Sprache der Hände, bewegt und berührt der Lehrer den Schüler (Einzelarbeit).
«Bewusstheit durch Bewegung» ist die Wort-Sprache, die diese Erfahrungen auf die Gruppenarbeit überträgt. Diese Arbeit orientiert sich an den neurophysiologischen Zusammenhängen zwischen Nervensystem, Skelettsystem, Muskulatur und Umwelt.
In seinem Buch «Bewusstheit durch Bewegung» (1978) beschreibt Feldenkrais, wie wir uns gemäss dem Selbstbild, das wir von uns haben, verhalten. Er behauptet, dass die effektivste Art, unser Verhalten zu verändern, jene ist, unser Selbstbild zu verändern und nicht einzelne Bewegungen zu üben, die wir verbessern wollen. Feldenkrais sieht den Menschen als eine Einheit von Denken, Handeln und Fühlen.
Nach jeder Unterrichtseinheit (ca. 1 Stunde) erleben die Schüler ein neues Wohlbefinden: sie fühlen sich freier, leichter, größer, entspannter. Der Schmerz ist gelindert, oft verschwunden, die Augen werden heller und größer. Die Schüler erleben sich wieder frischer und jünger. Trotzdem legt Feldenkrais großen Wert darauf, dass dieses Berühren mit den Händen, dieses Führen mit der Sprache keinerlei therapeutische Ziele verfolgt. Der Schüler lernt dabei, die eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten weiterzuentwickeln.
Menschen kommen aus ganz unterschiedlichen Beweggründen zur Feldenkrais-Methode:
- aus Neugierde, sich selbst besser kennen zulernen
- um eine neue Art des Lernens und der Selbsterfahrung zu erproben
- um sich beruflich weiterzuentwickeln (Musiker, Sportler, Schauspieler, Tänzer usw.)
- nach bestimmten Veränderungen im Leben: nach Unfall, Krankheit, Schmerz.
Leider ist gerade letztgenannte Gruppe, die besonders wichtige Gründe für das Erlernen der Feldenkrais-Methode hat, oft zu stark fixiert auf ihre situations- bedingten widrigen Umstände. Um in einer solchen Situation mit der Feldenkrais-Methode lernen zu können, sind im besonderen bei Menschen, die an Schmerzen leiden, folgende Punkte zu beachten:
- Wir müssen eine angenehme Ausgangsposition finden, die den Spielraum für Bewegung in alle Richtungen hin öffnet, ohne an Grenzen (Schmerz, Blockade, erhöhte Spannung usw.) zu stoßen
- Bewegungsexperimente sollten als leicht, einfach und angenehm empfunden werden, ohne den Atem zu stören.
Dann werden sich die Grenzen des Spielraums spontan erweitern. Jeder übernimmt für sich selbst die Verantwortung, wie weit er gehen kann, ohne diesen Spielraum der Leichtigkeit im Erproben des Neuen zu verlassen. Selbstvertrauen und Selbstsicherheit beginnen zu wachsen. So können Schmerzen verhindert werden durch mehr Entspannung und durch das Erlernen neuer Bewegungsmöglichkeiten.
Wenn man diese grundlegenden Bedingungen missachtet, ist zu befürchten, dass der Schmerz «mitgelernt» wird, dass ihm noch mehr Raum zugestanden wird. Dazu bedarf es der Führung durch gut ausgebildete anerkannte Feldenkrais-PädagogInnen.
Von 1990-1992 wurde im Saarland eine Feldstudie zur Wirksamkeit der Feldenkraismethode bei MS-Betroffenen durchgeführt. Eine Teilnehmerin mit starker, schmerzhafter Spastik im Rücken und in den Beinen berichtet über ihre besondere Art zu lernen: Alle Muskeln, die sie zur Bewegung brauchte, waren schon belegt von der Spastik, also nicht mehr frei für eine Bewegung, so dass sie nur gegen großen Widerstand arbeitete. Deshalb führte sie die Bewegungsexperimente nur in der Vorstellung aus. Sie plante die Bewegung unter Berücksichtigung möglichst vieler Bewegungsdetails. Dabei spürte sie, wie sich im Bereich der Lendenwirbelsäule «etwas» löste, die Schmerzen verschwanden – sie fühlte sich freier und konnte hinterher das «Neue» beim Gehen benutzen.
An der Studie nahmen 50 MS-Erkrankte mit unterschiedlichem Behinderungsgrad teil. Sie arbeiteten jeweils über ein Jahr an 30 vollen Arbeitstagen (verteilt auf 10 Wochenenden) in zwei Gruppen zu 25 Schülern nach der Feldenkrais-Methode in «Bewusstheit durch Bewegung».
Die statistische Auswertung der zu Beginn und am Ende erhobenen Befragungen und psychologischen Tests ergaben, dass die TeilnehmerInnen für sich selbst eine deutlich positive Veränderung des Erlebens und Verhaltens wahrnahmen. Ihre allgemeine Befindlichkeit hatte sich verbessert, ebenso die Art und Weise, wie sie mit ihrer Krankheit umgingen: Sie zeigten weniger grüblerisches Verhalten und konnten selbstsicherer und offener den Blick nach vorne und auch auf die Umwelt richten. Psychische und psychosomatische Beschwerden verminderten sich, ein Rückgang der körperlichen Beschwerden konnte jedoch nur teilweise festgestellt werden – das war im neurologischen Bereich auch nicht anders erwartet worden. Deutlich zeigte sich die bessere Annahme der eigenen Person und die Veränderung des Selbstkonzepts.
Im Bereich der Bewegungsentwicklung konnte eine Tendenz zu komplexeren und differenzierteren Bewegungen bei gleichzeitiger Verbesserung der Bewegungsqualität beobachtet werden.
Das Ziel «Hilfe zur Selbsthilfe» ist damit erreicht worden. Die Teilnehmerlnnen waren besser in der Lage, notwendige Ressourcen zur Bewältigung ihrer Krankheit zu finden, ohne sich allzu sehr den von außen gesetzten Maßstäben anzupassen, sondern die eigenen Grenzen und Bedürfnisse wahrzunehmen.
Mit der Feldenkrais-Methode zu arbeiten, ist eine Weiterentwicklung der ganzen Persönlichkeit, ein inneres Wachsen. Das bedeutet, das Bild, das wir von uns haben, zu entdecken, weiterzuweben, zu knüpfen, zu gestalten. Dieses Weben des Selbstbildes ist die Basis für ein wacheres, lebendigeres Leben, ein Weg zum Selbst, ein Weg, Körper, Geist und Seele zu erfahren als ein miteinander verbundenes untrennbares Ganzes.
Feldenkrais et SP
Die Feldenkrais-Methode und ihre Wirksamkeit bei MS-Betroffenen
Helga Bost, Gilde lizenzierte Feldenkrais-Lehrerin, St. Wendel / BRD
Zeitschrift der Schweizerischen Multiple Sklerose Gesellschaft
MS-AKTUELL, Schmerzen bei MS. Nr. 3, Herbst 1995, 36. Jahrgang
Die Feldenkrais-Methode bietet dem Menschen eine Möglichkeit, zu jedem Zeitpunkt seines Lebens den Prozess des organischen Lernens wieder aufzugreifen, wie es spontan geschieht bei kleinen Kindern bis zu 4 – 5 Jahren, die auf sinnlich forschende Art und Weise sich selbst und ihre Umwelt entdecken in sicherer, ruhiger Atmosphäre, neugierig, wachsam, offen für alles Neue.
Moshé Feldenkrais, 1904 in Russland geboren und 1984 in Tel Aviv gestorben, entwickelte seine Methode mit dem Ziel «Lernen zu lernen» auf der Basis seines enormen Wissens als Judomeister, Physiker, Elektroingenieur, Verhaltensforscher, seines Wissens in der Verhaltensphysiologie und -psychologie und der Neurologie. Viele Jahre arbeitete er mit Menschen, die bei ihm Hilfe suchten wegen körperlicher Leiden, geistiger Nöte und emotionaler Schwierigkeiten, oder auch mit Menschen ohne wesentliche Störungen, die daran interessiert waren, sich persönlich weiterzuentwickeln.
Feldenkrais entwickelte zwei Techniken, seine Methode zu unterrichten – Bei der «Funktionalen Integration», einer nicht verbalen Sprache der Hände, bewegt und berührt der Lehrer den Schüler (Einzelarbeit).
«Bewusstheit durch Bewegung» ist die Wort-Sprache, die diese Erfahrungen auf die Gruppenarbeit überträgt. Diese Arbeit orientiert sich an den neurophysiologischen Zusammenhängen zwischen Nervensystem, Skelettsystem, Muskulatur und Umwelt.
In seinem Buch «Bewusstheit durch Bewegung» (1978) beschreibt Feldenkrais, wie wir uns gemäss dem Selbstbild, das wir von uns haben, verhalten. Er behauptet, dass die effektivste Art, unser Verhalten zu verändern, jene ist, unser Selbstbild zu verändern und nicht einzelne Bewegungen zu üben, die wir verbessern wollen. Feldenkrais sieht den Menschen als eine Einheit von Denken, Handeln und Fühlen.
Nach jeder Unterrichtseinheit (ca. 1 Stunde) erleben die Schüler ein neues Wohlbefinden: sie fühlen sich freier, leichter, größer, entspannter. Der Schmerz ist gelindert, oft verschwunden, die Augen werden heller und größer. Die Schüler erleben sich wieder frischer und jünger. Trotzdem legt Feldenkrais großen Wert darauf, dass dieses Berühren mit den Händen, dieses Führen mit der Sprache keinerlei therapeutische Ziele verfolgt. Der Schüler lernt dabei, die eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten weiterzuentwickeln.
Menschen kommen aus ganz unterschiedlichen Beweggründen zur Feldenkrais-Methode:
- aus Neugierde, sich selbst besser kennen zulernen
- um eine neue Art des Lernens und der Selbsterfahrung zu erproben
- um sich beruflich weiterzuentwickeln (Musiker, Sportler, Schauspieler, Tänzer usw.)
- nach bestimmten Veränderungen im Leben: nach Unfall, Krankheit, Schmerz.
Leider ist gerade letztgenannte Gruppe, die besonders wichtige Gründe für das Erlernen der Feldenkrais-Methode hat, oft zu stark fixiert auf ihre situations- bedingten widrigen Umstände. Um in einer solchen Situation mit der Feldenkrais-Methode lernen zu können, sind im besonderen bei Menschen, die an Schmerzen leiden, folgende Punkte zu beachten:
- Wir müssen eine angenehme Ausgangsposition finden, die den Spielraum für Bewegung in alle Richtungen hin öffnet, ohne an Grenzen (Schmerz, Blockade, erhöhte Spannung usw.) zu stoßen
- Bewegungsexperimente sollten als leicht, einfach und angenehm empfunden werden, ohne den Atem zu stören.
Dann werden sich die Grenzen des Spielraums spontan erweitern. Jeder übernimmt für sich selbst die Verantwortung, wie weit er gehen kann, ohne diesen Spielraum der Leichtigkeit im Erproben des Neuen zu verlassen. Selbstvertrauen und Selbstsicherheit beginnen zu wachsen. So können Schmerzen verhindert werden durch mehr Entspannung und durch das Erlernen neuer Bewegungsmöglichkeiten.
Wenn man diese grundlegenden Bedingungen missachtet, ist zu befürchten, dass der Schmerz «mitgelernt» wird, dass ihm noch mehr Raum zugestanden wird. Dazu bedarf es der Führung durch gut ausgebildete anerkannte Feldenkrais-PädagogInnen.
Von 1990-1992 wurde im Saarland eine Feldstudie zur Wirksamkeit der Feldenkraismethode bei MS-Betroffenen durchgeführt. Eine Teilnehmerin mit starker, schmerzhafter Spastik im Rücken und in den Beinen berichtet über ihre besondere Art zu lernen: Alle Muskeln, die sie zur Bewegung brauchte, waren schon belegt von der Spastik, also nicht mehr frei für eine Bewegung, so dass sie nur gegen großen Widerstand arbeitete. Deshalb führte sie die Bewegungsexperimente nur in der Vorstellung aus. Sie plante die Bewegung unter Berücksichtigung möglichst vieler Bewegungsdetails. Dabei spürte sie, wie sich im Bereich der Lendenwirbelsäule «etwas» löste, die Schmerzen verschwanden – sie fühlte sich freier und konnte hinterher das «Neue» beim Gehen benutzen.
An der Studie nahmen 50 MS-Erkrankte mit unterschiedlichem Behinderungsgrad teil. Sie arbeiteten jeweils über ein Jahr an 30 vollen Arbeitstagen (verteilt auf 10 Wochenenden) in zwei Gruppen zu 25 Schülern nach der Feldenkrais-Methode in «Bewusstheit durch Bewegung».
Die statistische Auswertung der zu Beginn und am Ende erhobenen Befragungen und psychologischen Tests ergaben, dass die TeilnehmerInnen für sich selbst eine deutlich positive Veränderung des Erlebens und Verhaltens wahrnahmen. Ihre allgemeine Befindlichkeit hatte sich verbessert, ebenso die Art und Weise, wie sie mit ihrer Krankheit umgingen: Sie zeigten weniger grüblerisches Verhalten und konnten selbstsicherer und offener den Blick nach vorne und auch auf die Umwelt richten. Psychische und psychosomatische Beschwerden verminderten sich, ein Rückgang der körperlichen Beschwerden konnte jedoch nur teilweise festgestellt werden – das war im neurologischen Bereich auch nicht anders erwartet worden. Deutlich zeigte sich die bessere Annahme der eigenen Person und die Veränderung des Selbstkonzepts.
Im Bereich der Bewegungsentwicklung konnte eine Tendenz zu komplexeren und differenzierteren Bewegungen bei gleichzeitiger Verbesserung der Bewegungsqualität beobachtet werden.
Das Ziel «Hilfe zur Selbsthilfe» ist damit erreicht worden. Die Teilnehmerlnnen waren besser in der Lage, notwendige Ressourcen zur Bewältigung ihrer Krankheit zu finden, ohne sich allzu sehr den von außen gesetzten Maßstäben anzupassen, sondern die eigenen Grenzen und Bedürfnisse wahrzunehmen.
Mit der Feldenkrais-Methode zu arbeiten, ist eine Weiterentwicklung der ganzen Persönlichkeit, ein inneres Wachsen. Das bedeutet, das Bild, das wir von uns haben, zu entdecken, weiterzuweben, zu knüpfen, zu gestalten. Dieses Weben des Selbstbildes ist die Basis für ein wacheres, lebendigeres Leben, ein Weg zum Selbst, ein Weg, Körper, Geist und Seele zu erfahren als ein miteinander verbundenes untrennbares Ganzes.